Tagebuch 1999

Vorbetrachtung

Aller guten Dinge sind drei, könnte ich schreiben, wenn ich es bei drei bewenden lassen könnte. Kann ich aber nicht. Bei weitem nicht.

In den voraussichtlich schönsten zwei Wochen dieses Jahres soll es in der ersten Hälfte (noch einmal) ins Kilcatherine English Centre gehen und danach über Killarney die Westküste hoch nach Connemara fahren, sozusagen die aufs Wesentliche komprimierte Tour, die ich 1996 schon mal mit einer Art Fahrrad bestritten habe.

Die Woche vor der Abreise ist ziemlich stressig, weil ich gerade erst von der anderen Seite des Atlantiks zurück bin. Immerhin brauche ich die Tasche nicht groß auszupacken, auch den Tequila nicht. Frau O’Carroll wird dazu einen Sombrero bekommen. Des weiteren gab es bereits seit März (ich meine – März) keine Flugtickets von Berlin nach Irland mehr, deshalb muss ich mit dem ICE nach Düsseldorf (ich meine – Düsseldorf) und von da mit Aer Lingus nach Dublin.

Eine sonderbare und nicht mehr mit Zufällen erklärbare Symbiose – nein, Mesalliance – aus Geldmangel, leeren Batterien, sehr langsamen elektrooptischen Wellen, einem irreparabel beschädigten KFZ-Getriebe made in Zwickau, versiebten T-Shirts und einem stadtbezirksweiten Stromausfall führt weiterhin dazu, dass ich am Abreisetag früh noch zur Arbeit muss und dann aber schleunig zum Bahnhof.

Gut Ding will Eile haben
Freitag, 25.6.1999

 Das Bild war zwar auch schon im Tagebuch 1996 als erstes dran, aber hier passt es eigentlich noch besser.
Das Bild war zwar auch schon im Tagebuch 1996 als erstes dran, aber hier passt es eigentlich noch besser.

Natürlich schaffe ich den Zug rechtzeitig, aber drei Kilo leichter. Endlich habe ich mal wieder Urlaub, die letzten vier Tage waren ja nicht zum Aushalten. Neben mir im Zug sitzt ein Pole (das Volk mit den zu großen Brillen), der ganz gut deutsch spricht und Jesuitenpfarrer ist er auch. Es ist immer interessant, sich mit einem Ausländer über Deutschland zu unterhalten.

Die Bekannte, mit der ich mich in Cork treffen will (falls ich je dahin komme), hat mir einen mich verwirrenden Spruch auf den Anrufbeantworter getan. Das erfahre ich von den Daheimgebliebenen am Zugtelefon, welchletzteres einem ohne Warnung eine halbe Telefonkarte in zwei Minuten absaugt und auf die Art wahrscheinlich die Deutsche Bahn vor dem Bankrott bewahrt. Nein, falsch, solange die einen Becher warme Cola für vier Mark verkaufen können, ist das Telefon nicht allein auf weiter Flur bei der Verteidigung der Festung „Deutsche Bahn“ gegen den Kunden.

Im Ruhrgebiet beginnt der Zug plötzlich, in wirklich jedem Dorf zu halten, wo wir doch so schon Verspätung haben. Ich werde also meinen Anschluss-Vorortzug nicht schaffen und das Flugzeug auch nicht. Wenn ich den erwische, der den Leuten beim Beantragen einer so genannten „Fahrkarte“ planmäßig nach vier Stunden Fahrt fünf Minuten zum Umsteigen erteilt und einfach voraussetzt, die Züge seien pünktlich, werde ich ihn mir mal richtig kräftig anschauen.

Das erzähle ich auch der Schaffnerin (die heißt natürlich nicht mehr Schaffnerin, sondern BahnServiceTeam oder wie ein anderes von diesen modernen, in sich widersprüchlichen multilingualen Kunstwörtern), aber die zuckt nur mit den behaarten Achseln. Den folgenden Wortwechsel übergehe ich hier aus Gründen des Jugendschutzes, aber schließlich bewege ich sie dazu, in einem Fahrplan eine Alternative für mich zu finden.

Danke.

Der Flughafen Düsseldorf ist (zumindest 1999) im Bau und eher zurückhaltend beschriftet, was dazu führt, dass man sich für eins der Terminals A-E entscheiden soll, noch bevor man weiß, wo der Flug abgeht. Ich entschließe mich zu einer alphabetischen Suchstrategie.

Ich bin so.

Manchmal habe ich mit so was sogar Erfolg.

Mein Flug geht von Terminal A, was ich direkt am Eingang zu Terminal A erfahre. Von so einem gelangweilt da sitzenden Terminator, nicht über einen der Bildschirme, denn die zeigen irgendwie die Ankünfte in der Abflughalle und umgekehrt.

Rumrennen, einchecken, schauen, Baustelle, vielleicht irgendwas kaufen. Selbst daran scheitere ich heute. Da stehe ich also da, als williger Konsument, ich bin bereit, aus reiner Langeweile Geld auszugeben. Sowas kann ich leiden… Man winkt im Prinzip mit einer Banknote, und es gibt nichts Interessantes, was man damit kaufen kann, und auch nicht das, was man sucht. Dass ein Staat auf diese Weise nicht funktionieren kann, hat doch grade erst die DDR bewiesen.

Ein grünes Flugzeug kommt, der erste Lichtblick des heutigen Tages. Hinein in die summend dösende Stille der langweiligen verlorenen Spätnachmittagssonne.

Drinnen erwarten einen sehr freundliche Stewardessen, und ich stelle fest, dass ich kommentarlos einen Platz in einer von diesen Sitzreihen mit Notausgang erhalten habe, weil dort mehr Platz ist (mit auf 3mm geschorenen Haaren bin ich 1.92m groß). Ich vermerke das sehr positiv, nur hätte das letzte Woche bei 11 Stunden Air „Möchtegern“ France beispielsweise nötiger getan. Aber Air-France-Flugzeuge sind eben nicht grün.

Das nächste, was ich sehr positiv vermerke, ist das Essen. Aer Lingus verzichtet auf die befürchtete wild zusammengemischte kontrakulinarische Kreation mit unpassendem Besteck, sondern händigt dem Passagier einfach ein wohlschmeckendes Sandwich, ein paar Kekse und Tee aus. Irgendwie ist diese Fluggesellschaft normal und scheitert nicht gleich an der ersten Klippe ihres selbsterfundenen Images.

Die Ansprüche in Deutsch kommen vom Band, von einer spindeldürren altjüngferlichen Oberlehrerin mit einer klirrend klaren Aussprache. Oder von einem Sprachsynthesizer, der seinen Programmierer erschrecken wollte. Die Sitzbezüge sind mit Sprüchen von Oscar Wilde bestickt.

Aber auch bei Aer Lingus liegen diese Hochglanz-Fluglinien-Magazine herum, die einen mit schönen Bildern und einer breitgefächerten Artikelauswahl sanft dazu bringen sollen, möglichst viele Pullover, Antiquitäten und Whiskey zu kaufen. Dafür bringen sie einem Irland nahe, während sie einen Irland nahe bringen.

Touchdown Ireland. The eagle has landed.

Und ich quatsche zuviel.

Beim Aerlink, dem Shuttle ins Zentrum, bin ich einer der Glücklichen am Anfang der Schlange, denn nach den ersten zehn ausländischen Touristen mit cambiofrischen 50-Pfund-Noten hat der Fahrer unerklärlicherweise kein Wechselgeld mehr. Am Bus- und Accomodation-Zentrum Dublins suche ich nur kurz nach einer Unterkunft, es ist halb elf des abends und furchtbar warm. Wollte ursprünglich mein Großgepäck am Busaras unterstellen, der „Left Luggage“-Verein hat aber schon zu und wirft damit meine gründlich durchgeplante Gepäcklogistik ebenso gründlich über den Haufen. Ich nehme ein Hostel (Jugendherberge) mit 12 Pfund pro Nacht und Frühstück, recht billig für Dublin.

Der erste, der mir oben begegnet, ist ein zottiger dicker Mann, der geschminkt ist wie eine Mischung aus Keith Flint von Prodigy, der Travestie-Gestalt Mary und Ludmilla Lotzke-Leimer. Er und seine beiden Mitreisenden sind aus den USA und gehen jetzt auf den Putz hauen. Dann ist da noch eine junge Frau aus Neuseeland, die gerade 22 Stunden Flug inklusive Irrungen und Wirrungen in Seoul hinter sich hat (wahrscheinlich so ähnlich, wie es sich durch unsinniges Hin-und-Her-Gerede, verschachtelte Nebensätze, Kommatas und Aufzählungen auch in diesem Satzgefüge andeutet) und also wie ich nicht mehr besonders unternehmungslustig ist. Aber wir klagen uns gegenseitig, maßlos übertrieben, wie das immer der Fall ist, unser Reiseleid.

Schlaf ist hier schwierig, denn erstens ist es sehr warm und zweitens sitzen unten im Hof etwa 450 Amis und reden. Gegen 3.30 Uhr kommen unsere Zimmergenossen wieder, und dann verstummt auch das Gerede, und ich kann noch drei Stunden schlecht schlafen, wie gesagt, und nicht nur wegen des quietschenden Kleinbürger-Bettes.

Gemma
Samstag, 26.6.1999

Dorthin!
Dorthin!
Um 8 Uhr soll mein Bus Eireann nach Cork fahren. Das asthmatische Krächzen, das mein Reisewecker bereits um sieben absondert und das dazu dient, friedlich schlafende Leute mit einer durchdachten Kombination aus Tinnitus und Herzstillstand zu wecken, ruft verblüffend ähnliche Geräusche unter den Decken der Mitbewohner hervor. Fast alle – die Neuseeländerin will auch schon früh raus, und sie hat auch keinen Kater.
Neben einem uralten durchgesessenen Polstersessel führt eine krumme Treppe in den Frühstückskeller, dort stehen auf zwei großen Wagen viele Tabletts mit Brötchen, Butter und Marmelade, etwas zu trinken findet sich auch. Stahlrohrstuhl-und-Wachsdecken-Gemütlichkeit, Selbstbedienung, Gespräche mit ein paar anderen Verrückten, die auch schon so früh auf sind, Herumgefummel an kleinen Plastikdosen mit Marmelade, bei denen die Deckelfolie immer nur in dünnen Streifen abgeht. Das wäre ein klarer Verstoß gegen Art. 1, Abs. 1, S. 1 des Grundgesetzes, aber das gilt ja hier nicht. Das Wort Jam Session geistert kurz durch den Raum, rutscht aber in einer Teelache aus und bricht sich ein Bein.

Für den Bus bin ich eigentlich schon etwas spät, denn es ist sehr voll, und als einer der letzten kriege ich noch einen Platz. Nun geht es der Sonne entgegen, abgesehen davon, dass es regnet. Der gestrige Tag wird sich im Nachhinein als der vorerst letzte mit wirklich schönem Wetter herausstellen. Zum Glück weiß ich das noch nicht, und deshalb verrate ich es auch nicht.

Im Verlauf einer Pause in irgendeinem Durchfahrtsnest kann ich schon wieder ein bisschen auf Irland umschalten, da die Luft (oder vielleicht besser die Athmosphäre) trotzdem gut riecht und mir in der Nieselwindkälte so richtig warm ums Herz wird.

Etwa eine Stunde zu spät trifft der Bus in Cork ein, und der Busbahnhof ist die Wiege des Chaos. Das vereinbarte Treffen klappt auf Anhieb, womit eindeutig bewiesen ist, dass jede Art von Organisation nur hinderlich ist. Jetzt aber nichts wie zur Gepäckaufbewahrung, wir haben vier Stunden Zeit, uns die Stadt anzuschauen.

Obwohl es regnet.

Zuerst jedoch klären wir die Sache mit unserem Bus nach Beara, wann, wo, warum. Und in einem Pub nehmen wir zu uns, und zwar einen Orangensaft und ein Guinness. So, wir sind da.

Wir betrachten Cork, aber wirklich aufregend ist es nicht, Regen hin oder her. Einkaufen. Im Buchladen gibt es die so genannten Penguin Popular Classics, deren jedes Exemplar ein Pfund kostet. Ich kaufe „Wuthering Heights“ von Emily Brontë, weil es ein wenig nach Irland klingt (das ist ein Irrtum), und Tolstois „War and Peace“ (im englischen Original), weil es nirgend sonst soviel Papier für ein Pfund gibt. Obwohl das Papier schon bedruckt ist. Außerdem kaufe ich noch so eine komische Schmiere für meine Schuhe, damit die nicht immer so nass werden, Herrgottsakrament.

Irgendwann haben wir die meisten Einkaufsstraßen dieser Stadt gesehen und fahren lieber mit einer kleinen privaten Buslinie nach Beara.

Lückenhaftes auf Beara
Sonntag, 27.6.1999, bis Freitag, 2.7.1999

Über die Zeit im Kilcatherine English Centre berichtet der Schriftführer wie schon im 97er Tagebuch unchronologisch nur die Ereignisse, die die touristische Seite Bearas betreffen.

Auf dem Beara Way II

Die Wurzel der Kilcatherine-Halbinsel
Die Wurzel der Kilcatherine-Halbinsel
Diesmal geht es auf dem Beara Way der Halbinsel Kilcatherine an den Kragen, allerdings ohne wirklichen Plan. Das Wetter ist mal wieder durchwachsen und arg windig. Zunächst gehen wir zum Kilcatherine Point und von da weiter entlang der steilen Felsküste. Gegenüber der Bucht liegt Kerry in all seiner Pracht, zum Anfassen nahe. Aber so weit weg, dass man die Wohnmobilkarawanen nicht sieht.

Zurück auf der Straße unterschätzt der Irlandfan die Wegstrecke auf der Karte gründlich (Beruf ist Beruf, aber Urlaub ist Urlaub), und wir wollen die Biege etwas erweitern, den Kilcatherine-Nordrand und einen kleinen Pass entlang zurück nach Eyeries.

Es wird ein sehr schöner Weg. Nach Verlassen der Straße geraten wir auf eine mittelfeuchte Hochwiese, wo immer mal wieder die bekannten Beara-Way-Pfähle stecken und einen so im Zickzack über den Rasen lotsen. Es geht an einem klaren See (Lough Fada) entlang, ein paar Kühe werden umgangen, Zäune überstiegen und so weiter. Und immer wieder andere Perspektiven auf einsame Bergwelt und Felsküste.

Zwei zweite Versuche des Zurückziehens

Dunboy Castle
Dunboy Castle

Die Tagesordnungspunkte „Bhuddist Retreat Centre“ und „Dunboy Castle und diese andere Ruine in der Nähe“ sollen heute mit einer Rundfahrt erschlagen werden.

Das „Retreat Centre“ ist mit Abstand der geschäftigste Ort auf ganz Beara. Die Autos auf dem Parkplatz werden gestapelt, alles nur, weil ein Haufen Leute mit Dubliner Kennzeichen hier herkommt. Wahrscheinlich weil Meditieren in ist und man jetzt auf außergewöhnliche Religion macht. Wie sich hier einer wohlfühlt und entspinnen kann, ist mir zum Beispiel schleierhaft. Genauso wie die Aussicht, das ist ein Fluch von mir. Schon beim letzten Mal war es neblig, außerdem dunkel. Eigentlich ist ja der Ort hier wunderschön auf ein paar Klippen über dem Meer gelegen, aber das erahnt man heute nur. Wenn die Leute nicht alle so rumoren würden, könnte man es wenigstens hören.

Die Durchschnitts-Dauergast hier trägt Holzpantinen (also gibt es die doch noch) ohne Socken, irgendeine Art Sporthose, längere wirre Haare, einen alten Schafswollpullover, eine beschlagene Nickelbrille und ein Regencape und ist imstande, gleichzeitig eine Diskussion über Synergieeffekte im Gemeinschaftsbewusstsein der Toleranz zu führen und einen Satz Gänse zu hüten.

Im obligatorischen Shop liegen eine Menge Bücher über Buddhismus, Tibet, Meditation und Bewusstseinserweiterung nach dem Tode. Aus gegebenem Anlass kaufe ich eine Postkarte: „There ist no way to happiness – happiness ist the way“ von Buddha (also nicht die Postkarte, aber der Spruch).

Wir fahren zurück Richtung C.-B. und halten am Eingang zum Dunboy Castle. Der Nebel hat sich verzogen, Regen allein reicht ja eigentlich auch. Wieder ist kein Mensch da, das einzige, was wir finden, ist ein Schild „Eintrittsgeld“, welches vage auf einen Bauernhof deutet, da sind aber schon ein paar Hunde auf uns aufmerksam geworden. So lege ich das Geld neben den Pfeil, man will ja korrekt sein.

„Hey look, we had German visitors again…“

Der ganze Weg ist weiter als ich dachte, aber so verschätzt man sich, wenn man mal kurz eineinhalb Jahre außerhalb ist. Diesmal sind keine Rinder da, nur ein einsamer Touristen-Wohnwagen zwischen Castle und dem Meeresarm. Das Schiffswrack sieht noch toter aus als damals, da gehört auch schon was zu. Wir versuchen, in das Schloss zu gelangen, allein im Vorhof, der als Rinderstall genutzt wird, ist es dermaßen matschig, dass wir es sein lassen (natürlich bin ich derjenige, der in den Matsch tritt. So wie ich aussehe, darf ich mich gar nicht mehr nach Hause trauen, wo immer das auch ist).

Dafür gehen wir aber noch weiter zu dem alten irischen Fort, da kann man sich wenigstens unterstellen. Ansonsten normal, wie immer, alles beim Alten. Es ist beruhigend, wenn die Realität den in sie gesetzten Hoffnungen entspricht.

Bere Island, diesmal mit Nahrungsaufnahme

Hungrig auf Bere Island im Vordergrund, der „Hungry Hill“ auf dem Festland im Hintergrund.
Für einen Abend haben wir einen Tisch im „Lawrence’s Cove“ bestellt. Das ist ein Fischrestaurant auf Bere Island mit einer „diese´-Fiesch-´at-vo‘-eine-Stunde-noch-in-die-Määr-schwiemen-mein-´err“-Garantie. Bere Island wiederum liegt vor Castletownbere im Meeresarm und besitzt zwei Fähren und vielleicht 200 Einwohner. Da die letzte Fähre um 18 Uhr fährt, hat der Restaurantbesitzer ein eigenes Boot, mit dem er seine Gäste für drei Pfund auf die Fischrechnung jederzeit vom Festland holt und wieder bringt.

Unser Kapitän fährt extra dicht an dem im Hafen versenkten Wrack vorbei, er hat ja auch Radar. Durch den starken Nebel sieht man kaum noch das Festland, die Insel noch nicht, und mitten aus dem Nichts taucht dieses Wrack auf. Netter Effekt. Hitchcock. Deshalb bekomme ich wohl auch Durst auf Zitronensaft.

Apropos Radar, das Ding in der Kajüte, das wie ein Atommeiler aussieht und das ich auf den ersten professionellem Blick als GPS-Empfänger indentifiziesiere, ist dann doch bloß ein Kompass, schließlich ist ein Fischkutter ja kein Space Shuttle. Auf dem Radar hingegen sieht man die Küstenstruktur und Unterwassererhebungen und kann somit wirklich blind fahren, wie in einem Computerspiel.

Ins Restaurant wollen wir noch nicht und wandern die Straße entlang nach Osten. Der Hafen ist ein mittlerer Lagerplatz für uralte Schiffe und versunkene Boote. Ein paar trockengelegte Fischzuchtnetze, die auf offener See das Halten von Großfischen als Haustiere ermöglichen.

Etwas weiter die Straße hinauf gelangen wir an den Ort, den ich vor ein paar Wochen für das alte englische Fort gehalten, das Tor geöffnet und etwas herumgeschaut habe. Es ist dies jedoch, wie ich überrascht feststelle, ein durchaus in Betrieb befindlicher Teil eines Stützpunktes der irischen Armee, überall Soldaten. Auf der Straße, in den Baracken und davor ist man kräftig am Exorzieren (das Wortspiel ist berechtigt: Willensaustreibung durch stupide Übungen). Unter den Soldaten etwa 15% Frauen, PatriotInnen, wahrscheinlich. Ein ungeordneter Haufen SoldatInnen auf der Straße verwandelt sich, plötzlich 5 einsamer Wanderer ansichtig werdend, in einen salutierenden in Reihe stehenden und sich mühsam das Lachen verkneifenden Haufen.

Sollte mir das mit Blick auf das letzte Jahr peinlich sein?

Da es immer feuchter und nebliger und hungriger wird, unterlassen wir den Besuch des echten Forts und gehen ins Restaurant. Es liegt auf einem weitläufigen Grundstück mit schönem Wintergarten, Auffahrt mit Muschelschalen ausgelegt und hält was auf sich. Die Karte bietet eine Unmenge der verschiedensten Fischgerichte.

Ich hasse Fisch (auf Tellern).
Das einzige Gericht ohne Fisch ist ein Steak mit Pilzen.
Ich hasse Pilze (auf Tellern).
Wunderbar.

Man tritt einen, der am Boden liegt, nicht noch mit Fischen und mit Pilzen auch nicht.

Bei Gelegenheiten dieser Art könnte ich manchmal fast etepetete sein. Das beginnt bei meiner festen Überzeugung, dass ein kultivierter, wohl erzogener und gebildeter Mensch des angehenden 21. Jahrhunderts nicht mehr mit seinem Essen kämpfen müssen sollte. Und ich übrigens auch nicht.

Als Vorspeise Shrimps. Die gehen ja noch. Mit einem Pfefferminzblättchen. Die anderen vorspeisen auch, nesteln zum Beispiel an einem Satz Garnelen (erst bezahlt man einen Haufen Geld und muss das Viehzeug dann noch selbst pellen).

Ich habe dann natürlich das Steak gegessen, abgesehen von den Pilzen. Alle anderen entscheiden sich doch dafür, ihren Fischen vor dem Verzehr langsam und qualvoll das Gerippe zu entziehen. Zum Dessert gibt es warmes Eis und unterkühlte Kirschsauce.

1. Ich lästere gerne. 2. Ich bekomme für das alles hier (leider…) kein Geld. Aber: das Essen war wirklich super, das Restaurant angenehm, der Chef/Kapitän ist sehr nett, man hat einen tollen Blick auf die Insel und Richtung Hafen und einen netten Abend.

Man sagt Bescheid, wenn man aufbrechen will, und wird zurück nach C.-B. gefahren. Eine Tour hin und zurück 50 Minuten. Ein Whammyburger funktioniert so nicht. Unser Kapitän fährt blind nach Radar, erst am Hafen schaltet er einen Scheinwerfer ein.

Pub.

Zum inzwischen dritten Mal nach Killarney
Samstag, 3.7.1999

Rush Month
Nach einer Woche Englischlernen im Kilcatherine English Centre verlassen wir die Halbinsel Beara mit dem Bus in Richtung Killarney. Es ist recht leer (also im Bus), zwei Jugendliche und drei vereinzelte Iren.

Die Jugendlichen (der eine mit Barett und Ring in der Augenbraue, die andere scheint der Kelly-Family ausgebüxt zu sein) sind aus den USA und legen uns Hostels (Jugendherbergen) ans Herz, sie haben da Erfahrungen und zeigen Karten und Listen, die alle „The officially approved Guide to Irish Hostels“ oder so heißen.

In Ardgroom steigen zwei ältere Amerikaner mit ihren Fahrrädern zu (Senioren vom Typ „ich-seh-aus-als-hätte-ich-die-Kraft-der-zwei-Herzen-nicht-wahr?“, Radlerhosen, bunte Anoraks, kurz: Irland-Aktivurlauber). Wir rufen „That’s cheating!“. Nun ja, das eine Fahrrad ist kaputt, und wo bekommt man Ersatzteile für amerikanische Fahrräder? Ich denke mal, in Killarney, da sind die Fahrradtypen alle so freundlich.

Wir stellen fest, dass dieser Bus nur bis Kenmare fährt und wir dort umsteigen müssen. Ich finde, das ist generell nicht gut gelöst, man kauft ein Ticket, alles nickt, und dann sitzt man da und weiß nichts über Aufenthalt, Umsteigen und welchen Anschlussbus man nehmen soll und bekommt das Ganze nur mit mühseliger Fragerei heraus.

Der Fahrer fährt kommentarlos durch Kenmare durch (ich hätt’s nicht gemerkt, wenn ich nicht schon mal kurz hier gewesen wäre und die anwesenden Iren nicht wie aufgeregte Eichhörnchen in der Gegend herumblicken würden). Es stellt sich heraus: er hat den Anschlussbus nach Killarney losfahren sehen und veranstaltet eine Verfolgungsjagd. So, das geschieht mir recht, die Antwort auf meine Sprüche über irische Busse. Irgendwann begreift der andere Fahrer, und wir steigen um.

Um ca. 15 Uhr kommen wir über die Straße, die ich 1997 mit dem Fahrrad gefahren bin, vorbei am Ladies View und mit Blick zum Gap of Dunloe und entlang des Nationalparks nach Killarney. Es regnet, klar. Der Busbahnhof von Killarney ist auch nicht direkt eine Sehenswürdigkeit, ein Parkplatz mit Betonstaubstelle und ein Container als Ticketschalter. Ich muss mich erst mal zurechtfinden.

Diesmal sind eher Hostels angesagt, man muss ja sparen wo es geht, koste es was es wolle. Man zahlt vier oder sechs Pfund weniger pro Nacht als in einem B&B. Wir finden das „Railways Hostel“, sind aber aufgrund des Namens vorsichtig. Als wir in unser Zimmer kommen, ist es leer, aber ein paar Gepäckstücke stehen herum. Ach ja, das Zimmer ist selbstverständlich nicht verschließbar. Der vorhandene Raum zum sicheren Verstauen der Gepäckstücke ist eine hell und weit offene Seitenkammer des Eingangsbereiches. Selbstverständlich ist von der ständig wechselnden Schalterbesetzung stets klar erkennbar, ob der tatsächliche Eigentümer des Gepäckstücks dieses durchwühlt.

Bevor es ein Missverständnis gibt: der Irlandfan hat diesbezüglich bisher keine schlechten Erfahrungen gemacht, aber er mag so etwas einfach nicht.

Ross Castle
Ross Castle
Es ist noch relativ früh am Nachmittag, und so unternehmen wir einen ersten offiziellen Gang in die Stadt und auf diesem wiederum einen offiziellen Gang zum Ross Castle. Kurz darauf fängt es wieder an zu regnen. Meine Regensachen liegen warm und trocken in der Unterku… ähm also in dem Haus in dem wir schlafen.

Die Länge des Weges ist stets direkt proportional zur Intensität des Regens.

So weit allerdings kam mir das damals gar nicht vor…

Als wir am Ross Castle ankommen, regnet es vorerst nicht mehr. Die Luft atmet sozusagen wieder auf, und die Sonne besucht uns kurz. Wir entscheiden uns gegen einen Besuch des Museums und auch gegen eine Bootstour zu den Inseln. Erstens könnte es jeden Moment wieder regnen, und zweitens ist ein Kahn innerhalb der paar Tage, die vergangen sind, seit ich die Tour gemacht habe, ziemlich teuer geworden.

Als wir in der Unterku über den weiteren Verlauf sprechen, kommt ein dicker Mann, legt sich in ein Bett und fängt an zu schnarchen. Es riecht streng, seit er da ist. Schweiß, Urin, Knoblauch und Sp…ontan fallen einem da noch mehr Dinge ein. Wir gehen lieber in die Stadt, essen, nämlich den natürlich typisch irischen Fastfood im Abrakebabra. Es gibt eine halbwegs saubere Hand voll Gerichte, die entfernt an verschiedene Teile der Welt erinnern und gemeinsam haben, dass sie sehr scharf und ein wenig durchweicht sind. Kebabfleisch mit scharfer Sauce („Hot“) in einem Baguette. Wenn man das Auge nicht mitisst, ist es gut. Ansonsten die typische Struktur eines Fastfood-Ladens, alles darauf ausgerichtet, dass man bald wieder geht, um die Tische freizukriegen, letzteres schließt Essensreste und Sand natürlich nicht ein.

Überhaupt werden wir uns die restliche Zeit nicht geregelt ernähren, sondern von Spontankeksen aus dem Supermarkt und den Dingen, die das schweifende Auge beim Erwerb einer Zeitung erblickt.

Radtour Nr. – ach ich hab nicht mehr mitgezählt
Sonntag, 4.7.1999

Das Sugan (grün)
Das Sugan (grün)

Das war ne Nacht. Der dicke Mann schnarcht immer noch, alle 10 Minuten fährt ein Zug vorbei (daher also „Railways Hostel“); nachts gegen zwei kamen irgendwelche Leute, schalteten das Licht ein und quatschten.

Aus allen erwähnten Gründen ziehen wir in ein eigenes Zimmer. In diesem Hostel haben die Zimmer keine Nummern, sondern je ein Bild von Tieren des Waldes an der Tür, und da gibt es ein Stachelschwein-Zimmer und ein Rentier-Zimmer und folglich Gäste, die auf der Suche nach einem ausgestorbenen Paarhufer aus der Kreidezeit überraschend ins verkehrte Zimmer platzen.

Es regnet. Wir gehen richtig ordentlich irisch frühstücken, in ein Restaurant, das sich auf irisches Frühstück spezialisiert hat. Auf die Art kommt man auch auf den Preis für ein B&B, aber hintenrum und natürlich ohne die besondere Gastfreundschaft.

Wir mieten Fahrräder im Sugan, einem Hostel, das von innen zwar sehr eng, aber auch sehr gemütlich aussieht. Ein einzelner mürrischer Japaner löffelt verschlafen im Halbdunkel eine Büchse weiße Bohnen. Der Wirt ist ein freundlicher und chronisch überbeschäftigter junger Mann, und er erklärt jedem Fahrradmieter die Gegend und die Fahrräder.

Wir nehmen den kürzesten Weg zum Nationalpark, und der führt uns zunächst zum Muckross House. Auf dem Weg dorthin passieren und betrachten wir noch die Muckross Abbey. Das Wetter sieht schlecht aus.

Auf dem Weg zum Muckross House regnet es denn auch kurz und heftig. Dann hört es wieder auf, und wir besichtigen den großen schönen Garten und das Haus, nehmen einen Imbiss ein und planen die Weiterfahrt. Beim letzten Mal hatte ich keine sinnvolle Karte, jetzt haben wir eine lustige handgemalte mit Tierbildern drauf und Wasserfarben. Immerhin. Wir wollen noch zum Torc-Wasserfall und dann zurück um den Muckross Lake, vorbei an der Old-Weir-Bridge. Diesen Weg nahm ich vor zwei Jahren, nur anders herum, in Richtung Ladies View.

Torc
Torc
Zu den Torc-Fällen ist es nicht sehr weit, dort aber voll. Die Räder müssen wir unten stehen lassen. Wir schließen sie an, nicht, damit sie nicht entwendet werden, sondern um anhand des Schlüssels nachher herausfinden zu können, welche Räder die unsrigen sind. Man muss noch ein gutes Stück den Berg hochlaufen, um die Fälle zu sehen. Währenddessen wird das Wetter immer besser, ab und zu lässt sich die Sonne sehen, es wird richtig warm. Manchmal hat man auch einen wunderbaren Blick über die Seen Richtung Killarney.

Die Fälle liegen sehr idillysch mitten unter den Bäumen, sind aber nur bedingt mit den Niagarafällen vergleichbar. Wir steigen zum Spaß auf glibschigen Steinen herum.

Pünktlich zum Zeitpunkt der Fahrradbesteigung beginnt es wieder zu regnen, und wir müssen auf der stark befahrenen und sehr engen Straße zum Ladies View fahren, um dann wieder zu den Seen abzubiegen. Die Aussicht der Damen hatten wir gestern schon aus dem Bus bei identischem Wetter.

Die Befahrenheit der Straße führe ich auf den Sommertourismus zurück, jede Menge Busse und Wohnwagen. Letztens war’s hier so ruhig. Wir irren etwas herum, weil der einzige Weg in Richtung der Seen ein Weg ist, an dem steht: „Keine Autos“ und „Durchfahrt versperrt“. Offensichtlich eine Einbahnstraße für Fußgänger und Radfahrer, denn solche kommen den Weg herauf, wie auch ich vor ein paar Tagen. Irgendwann entscheiden wir, dass es jetzt doch angebracht ist, ein Gesetz zu brechen. Kurz darauf überholen wir natürlich eine Menge Fußgänger und Radfahrer, die auch das Gesetz gebrochen haben.

So einfach wird man hier zum Outlaw.

Es wird ziemlich schwül, und sobald man anhält und es gerade nicht regnet, wird man von Myriaden kleinster starkes Jucken verursachender Insekten (Gnitzen? Wäre irgendwie passend) belästigt.

In der Nähe der Old Weir Bridge befindet sich ein kleines Rasthaus am See, wo wir die Fahrräder stehen lassen und uns zu Fuß zur Brücke aufmachen. Vermutlich durch den starken Regen der letzten Tage ist der Bach ziemlich reißend geworden und hat ein paar Wiesen überflutet. Besonders an der engen Stelle der Brücke schießt das Wasser sehr schnell herum. Wie der Bootsbesitzer das überlebt, der gerade einen Kahn voller Touristen gegen die Strömung in den Fluss bewegt, sehen wir nicht mehr.

Schließlich erreichen wir wieder Killarney im strömenden, grinsenden Regen und dann unser trockenes Zimmer.

Wir nehmen unser Abendessen bei McD*****’* ein und besuchen dann ein riesiges Pub, in dem ich hier immer war immer wenn ich hier war, und dessen Namen ich trotzdem vergessen habe (er lautet: „Danny Man“). Wir finden Plätze an der Bar, und da haben wir Blick auf den ganzen Laden und auch auf die Bühne, auf der – natürlich – Irish Folk gespielt wird. Die Musik wird von einer Riesentruppe Amerikaner vor der Bühne wie eine Privatshow behandelt, jeder wünscht sich ein paar Songs, und irgendwelche älteren Damen und glatzköpfige Herren produzieren sich unvorteilhaft zur wohlwollend auch mal Tempo oder Tonart dynamisch anpassenden Begleitung der Band.

Übereinkunft: noch einen Tag hier bleiben und das Gap of Dunloe besuchen, aber nur, wenn morgen früh die Sonne scheint.

Radtour – Berge
Montag, 5.7.1999

Ein Durchblick!
Rückblick im Gap auf halber Höhe

Seit dem frühesten Morgen fährt alle fünf Minuten ein Traktor vor unserem Fenster vorbei, hin, zurück, hin, zurück. Immerhin scheint die Sonne, somit bleiben wir noch einen Tag hier.

Frühstück fällt erst mal aus, stattdessen holen wir wieder zwei Fahrräder beim Sugan, kriegen die ganze Gegend noch mal erklärt und dann geht es los, Richtung Gap of Dunloe. Dieses habe ich vor ein paar Wochen schon mal besichtigt, nur kam ich damals aus dem Tal auf der anderen Seite.

Wir fahren eine Weil durch friedliche, flache und blühende Landschaft. Am Gap allerdings wird es etwas voller, viele Autos, Leute auf Pferden etc. Der Weg nach oben ist abwechslungsreich, manchmal flach, machmal auch recht steil, Ruinen, verschiedene Gewässer. Ab und zu wird man von einer Droschke oder einem Auto überfahren (ob Autos hier nun verboten ist oder nicht).

Oben finden wir eine zivilisierte Gruppe amerikanischer Jugendlicher vor.
„Yo Mike! Miiiiiike!! Ever seen a place like this?“ – „Get the f*** ova heeeere! Dere’s a cool valley down de otha side!“

Es ist noch recht früh am Tag, das Wetter immer noch schön, und wir ziehen die Karte zu Rate und wollen noch Richtung Carrauntoohill (der höchste Hügel Irlands) fahren und mal schaun ob man hinaufkommt, soweit sieht das auf der Karte nicht aus und hoch ist er ja nun auch nicht.

Der Killarney-Kenner möge sein herablassendes Lächeln bitte einstellen.

Nach Verlassen der Hauptstraße wird es – natürlich – schlagartig ruhiger. Wir passieren ein paar zusammengestellte „Standing Stones“ oder Menhire mit einem formschönen Zaun, Ogham-Beschriftung und einem Erklärungsschild. Dann geht es wieder hinein in die Berge auf äußerst schmalen Straßen, die immer die Angst vor dem Sichverfahren wach halten, bis zu einem Parkplatz auf einer Art Bauernhof. Von hier nur noch zu Fuß. Während wir noch am Überlegen sind, entdecken wir ein Schild mit Hinweisen zum Berg. Feste Schuhe, Taschenlampe, warme Kleidung, Notrationen, Zelt, Malariapillen, Leuchtraketen und ähnliches haben wir nicht, deshalb lesen wir noch die Totenliste des Berges und dass hier im zweiten Weltkrieg mal ein Flugzeug hingestürzt ist.

Währenddessen ist ein junger Mann mit kurzen Hosen vom Berg heruntergekommen, der eine struppige streunende Promenadenmischung zusammenfassend als „f***ing dog“ bezeichnete (irrtümlich, denn das Tier war allein) und der sich nun unter einem Dach mit Colaautomat die nassen Klamotten wechselt.

Wir geraten ins Gespräch und erfahren, dass dem Mann auf dem Flug nach Irland das gesamte Gepäck abhanden gekommen worden war, und er musste sich neue Kleidung, Rucksack, Schuhe etc. kaufen. Trotzdem hat er seine Reise angetreten und ist heute halt mit kurzen Hosen den Carrauntoohill hinauf. Seine Erzählungen über den Berg lassen die erwähnten Schilder vor Neid erblassen. Der nicht wirklich vorhandene Pfad winde sich hin und her, und jedes Mal müsse man einen Bach durchwaten. Es sei kalt, windig, regnerisch und neblig. Man krieche durch Dornengestrüpp. Oben gäbe es keine Currywurst, und man sähe nichts.

Ich finde, angesichts derartig geballter Unbill ist es schon gerechtfertigt, mal irgendeinen nervigen Hund zu beleidigen.

Das Wetter hat inzwischen auf Niesel umgeschlagen.

Nach Norden
Dienstag, 6.7.1999

Heute verschwinden wir hier aber endgültig, denn mehr gibt es in Killarney nicht zu sehen, aber im Norden. Den Traktor kennen wir auch zur Genüge. Wir wollen zu den Cliffs of Moher, zum Burren, nach Galway und hinauf nach Connemara.

Das Wetter ist heute leicht verwölkt, jedoch größtenteils sonnig.

Natürlich fährt ein Bus Richtung Galway. Hier fährt immer irgendein Bus. Schön. Mal schaun wo wir da oben aussteigen. Umsteigen müssen wir, in Tralee. Von dem Ort sehe ich schon zum zweiten Mal nicht viel.

Die Lokalorganisation führt auf der Fahrt zu Schwierigkeiten. Wir wollen halt irgendwo (Lisdoonvarna, beispielsweise) ein Quartier nehmen und dann will ich eigentlich wieder ein Fahrrad nehmen und zu den Cliffs und so auf den Burren, womöglich Küstenstraße und oben drüber. Allein das ist selbst mir recht weit, besonders dann, wenn man wie ich eigentlich nach Ballyvaughan will, wo ich auch ein nettes Quartier kenne, aber da ist man schon am Nordrand des Burren, von wo es wiederum so weit zu den Cliffs ist.

Ich hoffe, das ist irgendwie nachvollziehbar.

Es geht wieder mit der Fähre über den Shannon, und es stellt sich heraus, dass der Bus an den Cliffs of Moher anhält und wir nach einer Stunde Aufenthalt in einen anderen Bus nach Galway umsteigen müssen. Auch schön. Den nehmen wir bis Ballyvaughan (ideal für den Burren), und die Cliffs haben wir auch schon im Sack.

Auf dem großen Parkplatz an den Cliffs steigen wir aus. Das Gepäck kann noch im Bus bleiben, der wartet schließlich auf den Anschluss aus Galway.

Cliffs of Moher
Cliffs of Moher

Die Cliffs sind immer wieder beeindruckend, vom Lande kommend ahnt man kaum was einen erwartet, sähe man nicht die vielen Menschen und den O’Briens-Tower. Aber ich will und kann gar nicht beschreiben, die Fotos müssen ausreichen.

Zeit haben wir genügend, und so trotten wir hierhin und dorthin, ein Stück die Cliffs entlang, und wir legen uns auch mal auf den Bauch und starren hinunter, wie das hier alle machen.

Als wir zurückkommen, steht schon unser Bus bereit, so ein hypermoderner Cyberbus der noch nach Desinfektionsmitteln und Styropor und der Blisterverpackung riecht. Wenn man an die Gepäckräume will, sagt der Bus „Stay clear! Luggage compartment in operation!“, während sich die Gepäcktüren automatisch bewegen, und es ist schön, verschreckte und sich nach versteckten Kameras umblickende Menschen zu beobachten. Natürlich kann man mit dem Fahrer reden (in Java), und natürlich kann er in Ballyvaughan anhalten.

Vorher drehen wir noch eine Biege durch die Touristengegend hier, Doolin und so, und überall legt der Fahrer eine millimetergekonnte Wende aufs Parkett, dass man weinen möchte.

In Ballyvaughan stehen wir zunächst klar und entnehmen anschließend unser Gepäck. Dann finden wir wie auf Abruf das sehr angenehme, zum Glück nicht sehr luxuriöse und darum gemütliche B&B, in dem ich 1996 schon war. Die Wirtin erkennt mich ein bisschen wieder und holt spontan das Gästebuch und findet unseren Eintrag von damals.

The Hitchhiker’s Guide to the Burren
Mittwoch, 7.7.1999

Auf dem Burren
Auf dem Burren
Es bleibt sonnig, nur später am Nachmittag nieselt es ab und zu. Ein Handtuch könnten wir eh gut gebrauchen.

Wir werden keine Fahrräder nehmen. Das akzeptiere ich a) aus Toleranz und b) weil ich die Entfernungen hier aufgrund beim-letzten-Mal-mit-Fahrrad-zurückgelegt-habens (fälschlich) für gering erachte.

Im Laden kaufen wir Dinge, unter anderem eine Spezialkarte der Gegend mit tiefschürfenden Informationen und genauen Straßenangaben, Kekse und andere Naschwaren. Zunächst geht es zur Ailwee-Höhle. Das erscheint schon recht weit. Es ist einfach schön dort oben, und wir sitzen auf einem Felsen und tafeln amtlich mit den mitgebrachten Nahrungsmitteln, überzeugt vom Zweiten Obelix’schen Theorem, sie dann nicht tragen zu müssen.

Danach machen wir uns auf den Weg den Burren hinauf in Richtung auf den Paulnabrone Dolmen. Der zwar auch nicht der unvermeidliche Hit einer Irland-Reise ist, trotzdem gehört man den Burren oben und wenn dann warum nicht vom Dolmen aus gesehen zu haben. Oder so. Außerdem glaube ich immer noch, dass es nicht so weit ist.

Ist es aber. Langsam mischt sich in die Gespräche der Gedanke an Aufgabe. Plötzlich hält ein Auto an, noch während wir am Aufstieg sind, übrigens ohne dass wir wunken. Innen zwei bäuerliche Damen, die uns fragen, ob sie uns mitnehmen sollen. Gut, es kann ja nicht so weit bis zum Dolmen sein.

Im folgenden Gespräch stellt sich heraus, dass sie nur angehalten haben, weil wir so bedauernswert ausgesehen hätten. Das weisen wir von uns; zumindest taten wir das nicht absichtlich. Es entspinnt sich weiterhin das übliche „Woher kommst du“, „Wohin gehst du“ und „Was tust du dazwischen?“.

Es ist sogar noch weiter als ich befürchtete. Wir fahren eine gefühlte Viertelstunde. Der Dolmen ist leicht daran zu erkennen, dass ab und zu Autos wild parken und Leute suchend durch die Steine irren. Nicht wegen des Dolmens, der ist gut zu erkennen, obwohl er nur so klein ist. Man irrt eher auf der Suche nach einer Rechtfertigung für den langen Weg. Vielen Dank.

Wir irren auch suchend durch die Steine und machen hier und da ein paar Bilder. Zwischen den vielen Steinen quetschen sich immer wieder Blümchen und das eine oder andere Farn hervor.

Jetzt haben wir aber einen hübschen Rückweg vor uns. Und es fängt an sporadisch zu nieseln. Bestimmt 10 oder 15 Kilometer. Wir trauen uns aber nicht, wieder zu trampen („Nun halt doch den Arm raus!“ – „Nö, mach du’s doch.“) Irgendwann tu ich’s. Das erste Auto hält an. Das wird langsam beängstigend.

Eben. Darinnen sind nämlich zwei verängstigte Amerikaner auf der Suche nach dem Ort Galway. Verängstigt sind sie, weil sich sowohl das Steuer und die meisten dieser komischen Hebel (keine Automatik) als auch der Gegenverkehr auf der falschen Seite befinden. Auf die Frage, ob sie nach Ballyvaughan fahren, antworten sie, dass sie es nicht wissen, aber wir können gerne mitkommen und es herausfinden helfen. Neben den gewöhnlichen Gesprächen auf der Fahrt weisen wir sie grob in die Infrastruktur Irlands ein und in Ballyvaughan auf das große Schild hin, auf dem Galway steht. Außerdem ist es wirklich einfach von hier.

Weiter nach Norden
Donnerstag, 8.7.1999

Nach einem kurzen Imbiss vor dem Sparmarkt kommt auch schon der Bus. Wir passieren ein nettes Dunguaire Castle, das ich schon kenne, und kommen nach Galway.

So, wohin wollen wir denn jetzt? Nach Clifden.

Es ist erstaunlich, eigentlich. An einem großen Parkplatz neben dem Bahnhof finden wir einen kleinen Laden, wo man Tickets für verschiedene günstige Privatbuslinien erwerben kann.

Mittagspause in Galway
Mittagspause in Galway

Der Bus nach Clifden fährt aber erst am späten Nachmittag, somit haben wir angemessene 5 Stunden Zeit für Galway, das sehr warm ist. Das Gepäck lassen wir am Bahnhof. Dessen einziges Gleis ist mit einer „1“ numeriert und der Bahnsteig heißt „Hauptbahnsteig“.

Den Mittagsimbiss nehmen wir auf dem Eyre Square auf der Wiese sitzend ein, damit sind wir Bestandteil der grauen Masse. Der Rest der Businessmenschen auf Mittagspause sitzt am alten Hafen und füttert Schwäne. Danach laufen wir in weiten Kreisen durch die Stadt und verbringen zuletzt eine gute Stunde am Sandstrand gegenüber vom Hafen. Ein paar streunende Hunde, die zunächst ganz nett waren, jedoch da wir mit ihnen spielten, wollen sie jetzt nicht mehr weg und nerven deshalb. Der Strand ist leer.

Wir fahren mit dem übervollen Bus den Lough Corrib entlang (das habe ich schon mal mit einem Fahrrad getan) und biegen dann nicht, was wir damals fälschlicherweise taten, nach Cong ab, sondern fahren entlang einer beeindruckenden Bergkette nach Nordwesten. Wegen dieser Bergkette wollte ich hierher. Es sind die Twelve Pins, aber wir lassen sie hinter uns, denn Clifden liegt noch weiter westlich. Clifden, aha. Hm.

Dreieckig ist es. Klein, nett, und mit Ambitionen, das nächste Killarney zu werden. Es liegt auch ideal für ein paar schöne Ecken, aber eigentlich nur, wenn man ein Auto hat. Wie gesagt, die Pins, der Connemara-Nationalpark, und ziemlich weit im Norden eine Abbey, ein Fjord und alles, was sich sonst noch im Norden befindet. Ok, also Clifden ist eher Startpunkt denn Zentrum.

Wir nehmen das zweite Hostel das wir finden. Geleitet von einem netten älteren Herrn, der sich sehr engagiert um seine Gäste kümmert, liegt es am Rand (und Fuß) der Stadt an einer bachdurchflossenen Wiese mit Schafen und Mauer und allem.

The Hitchhiker’s Guide to Connemara
Freitag, 9.7.1999

Kylemore Abbey
Kylemore Abbey

Wir bitten unseren Hostelbesitzer um Auskunft. Wir wollen nicht schon wieder Rad fahren, Busse fahren irgendwie komisch und ungünstig, trotzdem wollen wir versuchen, zur Kylemore Abbey und in die Berge zu gelangen und in die Sümpfe und überhaupt so ziemlich alles, was an einem Tag zu erledigen unmöglich erscheint.

Deshalb frühstücken wir zunächst an einer Tankstelle.

Wir wollen „hitch hiken“, nachdem das in Ballyvaughan so schön geklappt hat. Nur trauen wir uns nicht, direkt hier im Ort zu warten. Aus dem Bett fallen und den Daumen recken und eine Mitfahrgelegenheit schnorren, nee nee, nicht mit uns, zumindest geben wir es nicht zu. So wandern wir bei schönstem Sonnenschein hinaus, nach Norden, in Richtung auf die Abbey.

Wir kommen aus dem Tal heraus, die Grundstücke und Weiden werden weniger, dafür mehr Buschland. Zwischendurch fangen wir an zu winken, aber erst, als wir schon wieder Meeresausläufer sehen, hält ein junges Paar an. Sie nehmen uns aber nicht weit mit, denn sie wollen abbiegen und mit einer komischen Fähre auf eine komische Insel, wahrscheinlich Inishbofin. An einer Kreuzung auf einer kahlen Hochebene setzen sie uns ab, die einzigen sinnvollen Pflanzen stehen in einer Schonung kleiner Nadelbäume.

Wieder laufen wir eine ganz schöne Ecke. Dann nehmen uns zwei lustige Iren mit, die auch zur Kylemore Abbey wollen. Mit dem Herrn des Autos geraten wir kurz darauf in eine politische Diskussion oder besser Gespräch, und wir erhalten nähere Informationen über den anstehenden Friedensprozess (ein ungeschicktes Wort, zusammen mit „Abtreibungsparagraph“, „Entnazifizierung“, „Frauenbeauftragter“ und „schwerer Ausnahmefehler“). Bald gelangen wir in waldigere Gegenden und sind da.

Die Kylemore Abbey liegt atemberaubend schön im Wald am See unter einem kahlen Berg. Es handelt sich um ein Gebäude, das zunächst von einer reichen Familie als Landsitz erbaut und später eine Nonnenschule wurde und bis heute ist. Es gibt ein Museum und Lebensart reicher Familien in Irland, einen schönen Weg entlang des Sees, schön gestaltete Gärten, eine kleine Kapelle mit zahlreichen Feinheiten und (nicht) zuletzt Blicke auf See und Berge. Wir besuchen das Museum (ich erkenne mich nicht so recht wieder) und wandern dann am See entlang. Die Kapelle oder kleine Kirche ein Stück weiter sieht friedlich aus, innen sehr schön mit kleinen Säulen aus verschiedenem Marmor. Hinter der Kapelle wird es merklich unbelebter, und plötzlich stehen wir vor einem Zauntor, dahinter die Straße. Zum Glück ist die Umgehung des Zauntors gut ausgetreten, sonst hätten wir hier hilflos im Dornengestrüpp gehangen.

So, da wären wir wieder auf der Straße, gut einen Kilometer hinter der Abbey. Was nun?

Wir könnten unser Glück strapazieren und weiter in Richtung Killary Harbour trampen. Das soll der einzige Fjord Irlands sein.

Wir strapazieren.
Zunächst unsere Beine.

Später hält ein netter älterer Mann mit Interesse am Golfspielen an, außerdem am Wandern und vielen anderen einsamen Extremsportarten, und er kennt sich hier ein bisschen aus. In Leenane setzt er uns ab, Fjordende.

Wir ruhen uns aus, essen wieder irgendwas und steigen auf kleinen matschigen Inselchen herum, wo wir doch schon über Extremsportarten sprachen.

Dann machen wir uns auf den Rückweg, entlang des „Fjords“. Zehn sächsische Rodfohror, die das mit den Pedalen offensichtlich gut gepackt haben, überholen uns.

Am Killary Harbour
Am Killary Harbour

Stellenweise sieht das hier aber wirklich wie auf Bildern aus, die ich aus Norwegen gesehen habe, so eine kahle Landschaft in einem steilen Tal mit Wasser und Telegrafenmasten. Aber ein Fjord ist es wohl nicht. Es ist einfach ein Meeresarm zwischen Bergen.

Der nächste, der hält, ist irgendein Handwerker, nach seinem Auto zu schließen. Ein dreitüriger klappriger Golf, der ganze Rücksitz und der Kofferraum zugeladen mit Kisten und Zeugs. Wie will der uns denn mitnehmen?

Das geht schon. Irgendwie quetschen wir uns ins Auto, ich sitze halb auf der Straße, wenn die Tür offen ist, aber das geht schon. Es ist nicht mal unbequem, und für alle Fälle ist der Mann ein Tierarzt.

Zwischen der Abbey und Clifden erreicht er sein Ziel, einen entlegenen Hof mit krankem Viehzeug, und er muss uns leider hier absetzen. Danke.

Kurz darauf nehmen uns eine junge, aber dicke Irin und ein schwarzer jüngerer amerikanischer Mann mit, die beide Deutsch können. Sie machen Urlaub und sind von der munteren Sorte Leute, die im Auto immer auf den überall herumliegenden undefinierbaren Müll aschen. Ist ja vielleicht auch ein Mietwagen. Aber sehr nett, und es ist lustig, mal wieder Deutsch zu sprechen und über Deutschland; wie der Irlandfan es ja sowieso generell interessant findet, mit Fremdkörpern über das hypothetische Konstrukt Heimat zu sprechen.

Sie wollen heute noch etwas weiter und setzen uns also in Clifden ab. Wir sind zwar etwas fertig, trotz allem, aber eigentlich will ich mir noch das  Sumpfgebiet südlich von Clifden anschauen, obwohl es nur aus flachen Bogs ohne Baum und Strauch bestehen soll.

Genau das tut es. Aber es ist ein flaches Gebiet ohne Baum, Strauch, Haus, Straße oder Mensch, nur Sumpflandschaft. Hier sollte sogar mal ein Flughafen errichtet werden, man hat das aber verhindert. Wir laufen noch mal südlich bis wir’s gesehen haben und erwischen dann einen „Lift“ (eine Mitfahrgelegenheit) mit noch einem Golfspieler zurück nach Clifden.

Das war ein Tag. Ich glaube, wir haben das maximale draus gemacht, wir haben fast alles in der Gegend gesehen (doch wer definiert „alles“?) und sind insgesamt sechsmal mitgenommen worden. Einsame Spitze.

Was könnte da gelegener kommen als ein Besuch in einem Pub mit Musik?
Nichts.

Es ist schon ein wenig voll, trotzdem und deshalb wird es ein sehr lustiger Abend mit Musik. Von einem allein reisenden jungen Amerikaner erfahren wir, dass junge Amerikaner hauptsächlich nach Irland kommen, um zu trinken. In den USA darf man das erst ab 21, was ihn besonders ärgert, denn er ist zwanzig, und ein Limit bis zwanzig könne er verstehen, sagt er, das ist eine runde Zahl, aber 21, das sei wie um ihn persönlich absichtlich zu ärgern. Er ist auch nach nur zwei Pints Guinness nicht mehr so ganz in der Lage, und da er im selben Hostel wie wir wohnt, wird es ein schwankender Heimweg.

Erstaunlich, wie weit man auch ohne Handtuch kommt.